Das Commonitorium des südgallischen Priestermönchs Vinzenz von Lérins (434) gilt als prägnantester Ausdruck des Traditionsprinzips der frühen Kirche. In seinem berühmten ersten Kanon fordert der Autor, „das festzuhalten, was überall, was immer, was von allen geglaubt wurde“ (id teneamus, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est). Neben diesem häufig zitierten Kriterium zur Unterscheidung von Orthodoxie und Häresie schuf Vinzenz zugleich für die authentische Dogmenentwicklung eine klassische Formel (eodem sensu eademque sententia), die auch vom kirchlichen Lehramt bis in die jüngste Gegenwart hinein vielfach rezipiert wurde.
Das Commonitorium trat seinen „Siegeszug“ durch die Theologie- und Kirchengeschichte erst relativ spät an: Nachdem es während der Religionsdispute des 16. Jh. entdeckt worden war (Erstausgabe 1527), avancierten Kernpassagen aus dem Werk zum festen Argumentationsinstrumentar katholischer Kontroverstheologen dieser Epoche und behielten ihre hohe Geltung in bedeutenden theologischen Kontroversen der Folgezeit bei, wie z.B. in den Diskussionen auf dem Ersten Vatikanum zum Thema der päpstlichen Infallibilität. Desgleichen fanden die vinzentinischen Reflexionen über Tradition und Fortschritt Eingang in die Schriften wichtiger Theologengestalten der neueren Zeit, wie im 19. Jh. u.a. bei Möhler, Kuhn, Franzelin, Scheeben und Newman.
Die Komplexität der Rezeption dieses Werkes zeigt sich auch darin, dass sich nicht nur katholische Autoren auf die Autorität des Vinzenz beriefen (und berufen), sondern ebenso Akatholiken wie Lutheraner, Anglikaner und Altkatholiken. Bereits diese kurzen wirkungsgeschichtlichen Angaben machen deutlich, dass es sich bei dem Commonitorium um einen theologischen ‚Klassiker’ handelt, der auch im 21. Jh. seine Aktualität behält.
Der hier angebotene Band enthält eine umfangreiche Studie zu Autor und Werk, die Anlass und Intention des Commonitorium ausführlich behandelt (u.a. Anti-Augustinismus-Vorwurf, Vinzenz und der Semipelagianismus), sodann die Theologie des Commonitorium, insbesondere die korrekte Interpretation des vielzitierten vinzentinischen Kanon, erläutert und schließlich die facettenreiche Rezeptionsgeschichte nachzeichnet. Es folgt der lateinische Text mit deutscher Übersetzung und detaillierter Kommentierung des Werkes.
Herausgeber: Prof. Dr. Michael Fiedrowicz (Theologische Fakultät Trier, Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte und Patrologie)
Übersetzerin: Dr.phil. Claudia Barthold.
Inhaltsverzeichnis
I. Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1) Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
a) Historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
b) Antike Zeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
c) Geburtsjahr und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . 12
d) Eintritt ins Kloster und Aufenthalt auf Lérins . . . 14
e) Todesdatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
f) Hagiologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2) Sonstige Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
a) Excerpta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
b) Dubia et Spuria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
II. Das Commonitorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1) Werktitel, Verfasserpseudonym, Datierung . . . . . . 25
a) Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
b) Das Pseudonym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
c) Abfassungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2) Der Begriff Commonitorium und die Gattungsfrage . . . 31
3) Veröffentlichung und Adressatenkreis . . . . . . . . . 36
4) Der Überlieferungszustand und das zweite Commonitorium 38
5) Sprache und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
6) Gliederung und Komposition . . . . . . . . . . . . . . . 45
7) Anlass und Intention des Werkes . . . . . . . . . . . . 49
a) Anti-augustinische Polemik? . . . . . . . . . . . . 49
b) Die Frage im Spiegel der Forschung . . . . . . . . 50
c) Vinzenz und der Semipelagianismus . . . . . . . . 55
d) Werkimmanente Indizien zu Anlass und Intention . 58
e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
III. Die Theologie des Commonitorium . . . . . . . . . 79
1) Der „Kanon“ des Vinzenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
a) Die Suche nach der authentischen Überlieferung . 79
b) Die Bedeutung der einzelnen Kriterien . . . . . . . 82
α) Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
β) Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
γ) Konsens im Altertum . . . . . . . . . . . . . . . 92
- Konzilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
- Väterkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
- Der Väterbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 94
- Exemplifizierung: das Konzil von Ephesus . . 97
c) Interpretation des Kanon . . . . . . . . . . . . . . . 99
α) Die Anzahl der Kriterien . . . . . . . . . . . . . 101
β) Sukzessive Anwendung . . . . . . . . . . . . . 102
γ) Exklusive oder affirmative Bedeutung des Kanon . 103
d) Kritik des Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
e) Bedeutung des Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . 113
2) Dogmenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
3) Quellen und Vorgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
IV. Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
1) Antike und Mittelalter (Handschriften) . . . . . . . . . 125
2) Drucke und Übersetzungen in der Neuzeit . . . . . . . 126
3) Allgemeine Wertschätzung des Werkes . . . . . . . . . 130
4) Die theologischen Kontroversen d. 16. u. 17. Jahrhunderts 132
a) Das Konzil von Trient . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
b) Katholische Kontroverstheologen . . . . . . . . . . 136
c) Protestantische Theologen . . . . . . . . . . . . . . 140
d) Bossuet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
5) Das 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
a) Die Tübinger Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
b) Newman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
c) Im Vorfeld d. dogm. Entscheidungen v. 1854 u. 1870 155
6) Das Erste Vatikanum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
a) Die dogmatische Konstitution Dei Filius . . . . . . . . 158
b) Diskussionen über die päpstliche Unfehlbarkeit . . . 159
α) Döllingers Anti-Infallibilitätspropaganda . . . . 159
β) Das Traditionsprinzip i.d. Konzilsdebatten . . . . 163
γ) Vereinnahmung durch die Altkatholiken . . . . 167
7) Das Lehramt in der Zeit zwischen I. und II. Vatikanum . . 169
8) Das Zweite Vatikanum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
9) Jüngere lehramtliche Verlautbarungen . . . . . . . . . 174
10) Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Text - Übersetzung und Kommentar . . . . . . . . . . . 179
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Werkabkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Allgemeine Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . 317
Bibliographische Abkürzungen . . . . . . . . . . 318
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
A. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
B. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Personen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 356
Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Lateinische Stichwörter . . . . . . . . . . . . . . 364